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Deeper Learning

von | Okt 21, 2019 | Diskurs, Unterrichtsideen

Dunkles Meer

Interview mit Anne Sliwka

Deeper Learning – ein spannendes, innovatives Lernkonzept, welches zurzeit an der Universität Heidelberg beforscht wird. In diesem Interview, veröffentlicht von dem Magazin AufRuhr der Stiftung Mercator, erklärt die Bildungsforscherin Prof. Dr. Anne Sliwka, was sich hinter dem Konzept versteckt und erläutert, wie sich Anforderungen an Lehrkräfte verändern könnten. Frau Sliwka engagiert sich für die Deeper Learning Initiative.
 

© Anne Sliwka

Prof. Dr. Anne Sliwka ist Professorin für Bildungswissenschaft an der Universität Heidelberg.

Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem das Lernen im 21. Jahrhundert, Schul- und Schulsystementwicklung in international vergleichender Perspektive sowie die Professionalisierung von Lehrkräften.

 
 
 
Frau Sliwka, mit Blick auf die Digitalisierung ist oft die Rede davon, dass sich die Anforderungen an Arbeitskräfte verändern – was heißt das für die Schulen?
 

Sliwka: Der Unterricht wird sich wandeln müssen. Die Aneignung von Wissen wird nach wie vor eine große Rolle spielen. Aber es wird in der Schule nicht mehr nur um die Vermittlung von Wissen gehen, denn Informationen sind in der digitalen Welt frei verfügbar. Künftig wird das Arbeiten mit Wissen wichtig sein: Im Fokus wird stehen, Wissen mit Handeln zu verknüpfen. In der Folge werden sich viele Unterrichtsprozesse verändern müssen.

 
Wie kann das konkret aussehen?
 

Sliwka: Ich berichte Ihnen von einem Beispiel unserer Deeper Learning Initiative an einem Heidelberger Gymnasium. In Biologie haben wir in einem Projekt die Schüler*innen in Molekularbiologie eingeführt. Zunächst haben wir Wissen in fünf Teilbereichen der Molekularbiologie vermittelt, darunter die viel diskutierte Genschere. Für diese Einführung haben wir digitale Medien eingesetzt, darunter auch frei zugängliche Videos von Vorlesungen an amerikanischen Universitäten. Zunächst ging es also um die Aneignung von Wissen. Im nächsten Schritt haben sich die Schüler*innen dann nach Interesse eines der Themen ausgesucht und die molekularbiologischen Prozesse mit Hilfe eines digitalen Programms visualisiert. Ihre Ergebnisse haben sie auf einem digital erstellten Poster aufgearbeitet und dieses präsentiert. Das zeigt: Es geht heute darum, Wissen zu verstehen, indem man es kreativ verarbeitet.

 
Welche Kompetenzen muss Schule dafür vermitteln?
 

Sliwka: Die klassischen Kompetenzen sind nach wie vor wichtig, also das, was viele Lehrkräfte den Unterrichtsstoff nennen. Ich halte gar nichts von der Behauptung, heute müsse kein Wissen mehr vermittelt werden, weil ja alles Wissen im Internet zugänglich ist. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade in der offenen Wissensgesellschaft muss man besonders viel wissen. Das Wissen ist zwar digital zugänglich, aber man braucht Vorwissen, um nach dem Relevanten suchen zu können. Zu diesen Kompetenzen kommen nun neue hinzu, die 4 K des Lernens: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken. In der Vermittlung des kritischen Denkens waren deutsche Schulen im internationalen Vergleich schon lange gut. Nun stehen vor allem Kollaboration und Kreativität im Fokus, darauf wird es ankommen.

 

„Kreativität ist ohne Wissen nicht möglich.“

 
Wie können Lernformate aussehen, in denen Schüler*innen diese Kompetenzen lernen?
 

Sliwka: An der Universität Heidelberg beforschen und entwickeln wir das Deeper Learning. Kreativität ist ohne Wissen nicht möglich. Deswegen bauen die Lehrkräfte im ersten Schritt systematisch Wissen auf. Sie müssen das keinesfalls im klassischen Frontalunterricht tun, sondern können dabei kreativ sein, zum Beispiel Videos einsetzen oder Expert*innen einladen. Danach kommt in der kollaborativen Phase die Kreativität ins Spiel: Nun geht es darum, das Wissen in Teamarbeitsprozessen einzusetzen und damit weiter zu arbeiten. Dabei ist wichtig, dass die Ergebnisse lebensnah sind, also zum Beispiel Präsentationen, Aufführungen oder eine Software. Solche Ergebnisse sind ja auch später im Berufsleben gefragt.

 
Was bedeutet das für die Bewertung der Leistungen?
 

Sliwka: Am Ende sollte keine klassische Klassenarbeit mehr stehen, in der Wissen nur abgefragt wird. Die Bewertung wird sich stärker am Agieren der Schüler*innen im Prozess orientieren. Natürlich spielt auch das Arbeitsergebnis eine wichtige Rolle, aber es ist nicht mehr das alleinentscheidende Kriterium.

 
Mit diesen neuen Lernprozessen wird sich auch die Rolle der Lehrkräfte verändern. Wie werden sie in Zukunft aus Ihrer Sicht arbeiten müssen?
 

Sliwka: Die Arbeit der Lehrkräfte wird ohne Frage anspruchsvoller. Pädagogische Berufe sind am wenigsten durch die Digitalisierung bedroht. Die Fachlichkeit der Lehrkräfte wird eher noch wichtiger. In der Wissensgesellschaft ist Fachwissen die Ressource für das Problemlösen – und das kann man sich nicht schnell aneignen. Lehrkräfte brauchen das Vorwissen aus ihrem Studium, um Lernprozesse zu strukturieren. Dieser Vorsprung der Fachleute wird immer wichtiger. Hinzu kommt: In der Vergangenheit ging es stark um eine Routine-Expertise, Lehrkräfte brauchten bestimmte Routinen, die sie immer wieder abrufen mussten. Jetzt ist mehr Dynamik, mehr Adaptivität gefragt.

 
Wie kann das aussehen?
 

Sliwka: Die Lehrkräfte werden in Teams arbeiten, um gemeinsam Lernprozesse immer wieder neu zu entwickeln. So werden beispielsweise mehrere Englisch- oder Mathematiklehrkräfte gemeinsam daran arbeiten, in ihren achten Klassen ein bestimmtes Thema aus dem Lehrplan durch ein intelligentes Unterrichtsdesign umzusetzen. Bislang machen sie das weitestgehend unabhängig voneinander, jeder für sich. In Zukunft werden sie sich zusammensetzen und gemeinsam überlegen, wie sie das Thema erarbeiten – und dieses Design dann immer wieder überarbeiten und anpassen. Jede Lehrkraft wird die Einheiten dann in ihrer Klasse umsetzen. Es wird auch fächerübergreifende Unterrichtsvorhaben geben, wie das mit dem phänomenorientierten Lernen an finnischen Schulen bereits der Fall ist.

 
Wie realistisch ist das aus Ihrer Sicht?
 

Sliwka: In Deutschland fehlen uns dafür bislang die Strukturen. Aber das Entscheidende an der Digitalisierung in der Bildung ist: Es bringt nichts, die Schulen mit der technischen Infrastruktur auszustatten, wenn die Lernprozesse der Schüler*innen und entsprechend auch die der Lehrkräfte nicht verändert werden. Das zeigen Erfahrungen und Forschungen aus Schulsystemen, die schon weiter sind als wir. Dort sind die wöchentlichen Kooperationszeiten für Lehrkräfte im Arbeitsvertrag und im Deputat abgedeckt. Auch wir brauchen feste Zeiten, in denen die Lehrkräfte kollaborativ an dem Design des Unterrichts arbeiten. Am besten sollten sie sich wöchentlich miteinander vernetzen, an Unterrichtseinheiten arbeiten und diese immer wieder überarbeiten und weiterentwickeln. Bisher leben Lehrkräfte in Koexistenz: Sie wissen wenig voneinander. Aber so lange jeder alleine arbeitet, werden wir in den Schulen kein höheres Level erreichen – das ist für die Bildung in der digitalen Welt aber unabdingbar.

AufRuhr, Magazin der Mercator Stiftung Ruhr

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